4. Europäisches Bielefeldkolloquium, 11. Februar 1998

Die Nutzung urheberrechtlich geschützter Werke in digitaler Form

1. Einleitung

Kaum vergleichbar mit etwas je Erlebtem werden wir durch eine rasante Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien in ein neues Zeitalter, das sog. „Informationszeitalter“, geschleudert. Man spricht bereits von der Information als viertem Produktionsfaktor; neben Arbeit, Kapital und Boden. Kennzeichnend für die neue Zeit ist die globale „Vernetzung“, das weltweite Kommunizieren der Menschen mittels untereinander verbundener Computer.

Wenn also schon die Einrichtung digitaler weltumspannender Informations-Superhighways für nicht aufhaltbar und auch für unverzichtbar gehalten wird, so müssen folgerichtig auch die notwendigen „Verkehrsregeln“ geschaffen werden, um die auf ihnen fließenden Ströme und Bewegungen zu ordnen. Nur so kann ein Chaos auf diesen neuen internationalen Kommunikationsverbindungen vermieden oder ihr Herabsinken zu bloßen Geisterbahnen, auf denen kein Rechteinhaber sein Geistiges Eigentum der Gefahr eines ungenehmigten Downloadings aussetzen würde, verhindert werden.

Es ist ein wahrer Quantensprung, den die Einführung der digitalen Technologie ausgelöst hat. Diese ermöglicht die Umwandlung von geschützten Werken und Leistungen in ein und dasselbe Datenformat, unabhängig davon, zu welcher der bislang unterscheidbaren Werkarten sie gehören, und unabhängig davon, in welchem der bislang deutlich voneinander abgrenzbaren Speichermedien sie verkörpert sind. Texte, Bilder, Filme und Töne können ebenso in digitaler Form gespeichert werden wie bloße Daten und sonstige Informationen. Ein weiteres Wesensmerkmal dieser Technologie ist, daß sie Landesgrenzen und nationale Gesetze nicht kennt, sondern daß die digitalen Superhighways vielmehr binnen Sekunden Kommunikationsverbindungen über die ganze Welt herstellen (Stichwort: global information infrastructure). Mangels entsprechender nationaler und vor allem internationaler Rechtsvorschriften sind Urheber z. Zt. fast ohne jeden Schutz, und zwar im materiellen wie immateriellen Sinn, angesichts des derzeit kaum zu kontrollierenden Zugriffs Dritter auf elektronische Datenbanken und der damit verbundenen Möglichkeit, urheberrechtlich geschützte Werke ohne Genehmigung der Rechtsinhaber nach Belieben zu nutzen.

II. Rechtsfragen

1. Europäische und amerikanische Initiativen

Zu fragen ist, wie die Politik, insbesondere die Rechtspolitik, auf diese aktuellen Herausforderungen reagiert. Sowohl die Europäische Kommission als auch die amerikanische Regierung sehen in der Informationsgesellschaft das Kernstück eines Entwicklungsmodells für das 21. Jahrhundert, mit der der wirtschaftliche Fortschritt Europas und der USA steht und fällt. Die Clinton/Gore-Regierung hat deshalb vor zwei Jahren ein ehrgeiziges Programm gestartet mit dem Ziel, eine “National Information Infrastructure“ zu schaffen. Eine von der US-Regierung eingesetzte Arbeitsgruppe kam zu dem - richtigen - Ergebnis, daß der Erfolg einer „National Information Infrastructure“ ganz allein von deren Inhalt abhängt. Deshalb, so die Arbeitsgruppe, kann eine solche Infrastruktur keinen Erfolg haben, wenn ihr Inhalt nicht ausreichend geschützt ist.

Auch in der Europäischen Union sind entsprechende Überlegungen schon weit gediehen. Nach dem „Grünbuch über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte in der Informationsgesellschaft“ vom 19. Juli 1995 (KOM (95) 382 endg.) hat die Kommission Ende letzten Jahres einen Vorschlag für eine Richtlinie zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des „Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft“ ( KOM (97) 628 endg.) präsentiert.

Mit dem Richtlinienvorschlag trägt die Kommission zu einem großen Teil den neuen internationalen Verpflichtungen Rechnung, die sich aus dem Abschluß des WIPO-Urheberrechtsvertrags und des WIPO-Vertrags über Darbietungen und Tonträger aus dem Jahre 1996 ergeben. Darüber hinaus will sie aber auch die Gelegenheit nutzen, bestehende oder potentielle Handelsschranken im Gemeinsamen Markt zu beseitigen, indem sie - auf der Basis des WIPO-Urhebervertrags - Regelungen zum Vervielfältigungsrecht, zum Recht der öffentlichen Wiedergabe und zum Verbreitungsrecht (einschließlich des Erschöpfungsgrundsatzes) sowie Maßnahmen gegen die Umgehung oder den Mißbrauch elektronischer Verwaltungs- oder Schutzsysteme vorschlägt.

Die Verleger danken der Europäischen Kommission ausdrücklich für diese Initiative, die notwendig, wichtig und richtig ist. Dies gilt ganz besonders für die ausdrückliche Bestätigung der Geltung des Vervielfältigungsrechts, des Rechts zur öffentlichen Wiedergabe und des Verbreitungsrechts im digitalen Bereich.

Mit großer Sorge erfüllt uns aber, daß nach den Vorstellungen der Kommission ephemere Vervielfältigungshandlungen sowie Vervielfältigungen zum privaten Gebrauch zulässig sein sollen. Die Regelung bestimmter anderer Vervielfältigungshandlungen, vor allem durch Bibliotheken, soll dagegen den Mitgliedsstaaten überlassen werden. Zwar müssen diese Schranken des Vervielfältigungsrechts dem „Drei-Stufen-Test“ von Art. 9 Abs 2 RBÜ entsprechen, doch kann man sich schon jetzt lebhaft vorstellen, daß die Ansichten über unbestimmte Rechtsbegriffe wie „berechtigte Interessen“, „Unzumutbarkeit“ oder „normale Verwertung“ in den Mitgliedsstaaten höchst unterschiedlich beurteilt werden. Dies gilt ganz besonders im Zusammenhang mit der künftigen Rolle der Bibliotheken in der Informationsgesellschaft. In diesem Zusammenhang hätten wir uns eindeutigere Signale der Europäischen Kommission gewünscht.

a) Private Vervielfältigung

Nach Ansicht der Verleger ist für ein Recht auf private Vervielfältigung im digitalen Umfeld kein Raum. Auch die Kommission kommt in der Begründung ihres Richtlinienvorschlags völlig richtig zu der Erkenntnis, daß „dank der digitalen Technologie ... Verbraucher grundsätzlich rasch viele private Vervielfältigungsstücke von höchster Qualität herstellen“ können“ (zu Art. 5, Randziffer 6, Seite 37). Gleichzeitig erkennt sie ebenfalls zu Recht, daß die digitale Technik eine wirksame Kontrolle auch der privaten Vervielfältigung ermöglichen kann - im Gegensatz zum analogen Bereich - und daß individuelle Lizenzerteilungs-Modelle die in einigen Mitgliedsstaaten bestehenden Abgabenregelungen ersetzen werden (a. a. O.).

Wenn dann auch noch Einverständnis aller Beteiligten darüber besteht, daß im digitalen Umfeld die Vervielfältigungsfreude der Verbraucher mit perfekter Qualität der Kopien und Simplizität des Kopiervorgangs in unglaublicher Weise zunehmen wird, so bleibt im digitalen Bereich für ein privates Vervielfältigungsrecht oder weitere Ausnahmen keine Berechtigung mehr.

b) Rolle der Bibliotheken

Nach Ansicht der Bundesvereinigung Deutscher Bibliotheksverbände ist von solchen Einwendungen allerdings nichts zu halten (Denkschrift „Bibliotheken in der Informationsgesellschaft“, Deutsches Bibliotheksinstitut, Berlin 1997, S. 22). Vielmehr sollen die bisherigen Ausnahmen vom Vervielfältigungsrecht für den analogen Bereich unterschiedslos auch für das Speichern und Weiterleiten von urheberrechtlich geschützten Texten auf digitalem Wege gelten. So ist der notwendige Ausgleich zwischen Allgemein- und Urheberinteressen nach Meinung der deutschen Bibliotheksverbände mit Zahlung der Vergütung gem. § 53 UrhG an die VG WORT bereits erfolgt. Weitergehende Ansprüche von Urhebern und anderen Rechteinhabern seien unberechtigt.

Der Zynismus - dieses Wort muß hier erlaubt sein - solcher Äußerungen durch Vertreter der öffentlichen Hand ist allerdings kaum zu überbieten, denn auch dort weiß man ja, daß in Deutschland jeder Rechteinhaber jährlich im Durchschnitt ganze DM 371,87 für das Kopieren in öffentlichen Bibliotheken erhält bzw. DM 469,40, wenn es sich um das Kopieren in wissenschaftlichen Bibliotheken handelt (vgl. Geschäftsbericht der VG WORT 1996). Dieses Abspeisungsprinzip wollen die Bibliotheksverbände nunmehr auf elektronische Medien übertragen, denn ihrer Ansicht nach ist es unerheblich, über welche Technik man die gewünschte Information erhält. Damit wird der Zynismus nun endgültig auf die Spitze getrieben und das geistige Eigentum zur schrankenlosen Ausbeutung weltweit freigegeben. Denn geflissentlich wird übersehen, daß die Zurverfügungstellung von online-Informationen durch Bibliotheken in dramatischer Weise in die Primärverwertung der Verleger - also in deren ureigenste Aufgabe - eingreift, die auch künftig noch nach herkömmlicher Weise, der zunehmend auch und auf elektronischem Wege betrieben werden wird.

Um einen angemessenen Interessenausgleich zu erreichen, muß die Lösung in anderer Richtung gesucht werden. Bei der Suche nach einer solchen Lösung muß man sich notwendigerweise an den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen orientieren, die die Einführung der digitalen Technik mit sich bringt und versuchen, die Rolle der Beteiligten an der Informationskette neu zu definieren. Dazu gehören neben Autoren, Verlegern und Buchhändlern selbstverständlich auch die Bibliotheken. Sie alle müssen den rasanten Wechsel, der z. Zt. bei den neuen Medien stattfindet, nachvollziehen und entsprechende Anpassungen an ihr bisheriges Wirken vornehmen.

Auf Grund zuverlässiger Studien besteht - wohl weltweit - die einheitliche Auffassung, daß ohne private Investitionen der Aufbau der Informationsgesellschaft nicht gelingen kann. Private Mittel fließen aber nur dann, wenn die Investoren eine realistische Chance sehen, für ihren Einsatz einst auch honoriert zu werden. Angesichts der oben beschriebenen Möglichkeiten der digitalen Technik ist ein diesen Bereich umfassendes, wirksames internationales und nationales Urheberrecht unabdingbare Voraussetzung für das Entstehen der Informationsgesellschaft.

Dies bedeutet allerdings nicht, daß dadurch die Rolle z. B. der Bibliotheken überflüssig werden soll, im Gegenteil: Die Herausforderungen und Chancen sind auch für sie gewaltig; ebenso wie Autoren, Verlage und Buchhändler müssen sie jedoch vielleicht lieb gewordene Denk- und Arbeitsweisen in Frage stellen. Bibliotheken als Vermittler werden sogar wichtiger denn je sein - als Helfer und Dienstleister der Nutzer bei der Suche und Auswahl von Informationen innerhalb weltweit aktiver elektronischer Netzwerke. Da diese zum großen Teil privatwirtschaftlich betrieben werden, ist allerdings ein gleichzeitiges Agieren von privaten Informationsanbietern und von Bibliotheken, wenn diese den kostenlosen Zugriff auf die in den Datenbanken enthaltenen Informationen anbieten, ausgeschlossen. Andernfalls würde die privatwirtschaftlich organisierte Verwertung untergraben; d. h. zu Ende gedacht: Sie würde bei mangelnder Rentabilität nicht mehr stattfinden können.

Denn im Gegensatz zum Herstellen von Printkopien und deren Versendung durch die Post handelt es sich beim Online-Abruf z. B. von Fachzeitschriftenbeiträgen aus Bibliotheksdatenbanken nicht um die Berührung eines sekundären Rechts der Urheber und Verleger, sondern um einen elementaren Eingriff in die Primärverwertung des Verlags. Ein solcher Vorgang würde, wenn er ohne entsprechende Vorgaben des Rechteinhabers erfolgte, binnen kürzester Zeit die Verwertung überhaupt unmöglich machen, wenn öffentlich-rechtliche Einrichtungen - sprich Bibliotheken - mit Hilfe staatlicher Subventionen den Rechteinhabern auf dem Weltmarkt Konkurrenz machen.

Ein solches Szenario würde auch zwangsläufig zu einem wohl allseits unerwünschten Wettbewerb der Bibliotheken untereinander führen. Denn welcher Bibliotheksdirektor, z. B. in Hannover oder in München, sähe es wohl gern, wenn seine örtliche Klientel, für die er in erster Linie Dienstleistungen erbringen soll, ihren Wissensdurst in der Uni-Bibliothek von Buenos Aires stillt, weil man dieselbe Information dort zufälligerweise etwas günstiger erhält.

c) Lösungsansatz

Die Lösung dieser Problematik kann wohl nur in bewährter Weise erfolgen, wonach nämlich die Verlage den Bibliotheken, wie schon bisher, ihre Publikationen bzw. deren Inhalte zum Erwerb anbieten. Die Bibliotheken werden entscheiden - ebenfalls wie schon bisher - ob das angebotene Produkt ihren Erwartungen und Preisvorstellungen entspricht. Hier stehen sicherlich auch die Verlage vor einer großen Herausforderung. Kommt es zum Kauf oder zum Erwerb einer entsprechenden Lizenz durch die Bibliothek, so wird z. B. die elektronische Zeitschrift, wie deren Printversion zuvor, in der Regel nur Universitätsangehörigen - wie auch immer man diesen Kreis definieren wird - zur Verfügung gestellt. Wenn der Unterhaltsträger der Bibliothek eine solche Nutzung subventionieren will, so steht ihm dies - ebenfalls wie schon zuvor - völlig frei. Sollen die Informationen allerdings auch anderen als den eigentlich subventionsberechtigten Nutzern zur Verfügung gestellt werden, so kann dies nur zu den vom jeweiligen Rechteinhaber festgesetzten Bedingungen geschehen.

Dieser Einsicht sollte sich letztendlich keiner der Beteiligten entziehen, wenn er Kreativität, die Schaffung und Verbreitung von Wissen und Informationen nicht nachhaltig gefährdet sehen will. In der Praxis ist man deshalb längst dabei, vielfältigste Formen der Zusammenarbeit zu entwickeln. Zahlreiche Pilotprojekte laufen seit geraumer Zeit oder werden gerade angeschoben, wie z. B. SUBITO, die Bund-Länder-Initiative zur Schaffung eines Dokumentenlieferdienstes der deutschen Bibliotheken. Dort haben die beteiligten Bibliotheken den Verlagen bereits zugesagt, für die Phase II von SUBITO die elektronische Weitergabe von Dokumenten durch Bibliotheken auf individuelle vertragliche Vereinbarungen zu gründen. Es wird nun darum gehen, für solche Vorgänge Rahmenbedingungen zu entwickeln, die es den Bibliotheken ermöglichen, die erforderlichen Rechte ohne unnötigen Verwaltungsaufwand zu erwerben. In der gemeinsamen Entwicklung solcher Projekte - nicht durch eine Verkürzung des Urheberrechts - wird also die Lösung der anstehenden Probleme zu suchen sein. Im Grunde ein gar nicht so neuer Weg.

Lassen Sie mich schließen mit einem Wort von Franz Georg Kaltwasser, dem ehemaligen Direktor der Bayerischen Staatsbibliothek („Ein Spielplatz namens Internet“, Börsenblatt 99 vom 12. Dez. 1997, S. 12,19):

„Die neuen Techniken werden nicht nur die bislang gewohnten Tätigkeiten verändern, sie ermöglichen auch ganz neue zweckmäßige Aufgaben... Die Technik ist ein Mittel und nicht der Zweck. Die Aufgabe lautet, Informationen in bestmöglicher Weise zu vermitteln und sich dazu der jeweils dafür geeignetsten Technik zu bedienen und nicht umgekehrt, neueste Technik zu installieren und die sehr differenzierten Informationsprozesse dann technischen „Sachzwängen“ unterzuordnen. Wenn es mit Augenmaß geschieht, werden die Bibliotheken in der „neuen Informationsgesellschaft“ eine bedeutende Rolle der Vermittlung, aber auch der Bewahrung der Kultur und des Wissens spielen.“

„Informationen in bestmöglicher Weise vermitteln“ - das verstehe ich so: unter Beachtung auch der Rechte von Autoren und Verlegern!

gez. Dr. Harald Heker