Das elektronische Pflichtexemplar - die Rolle der Nationalbibliothek

(Überarbeitete Vortragsfassung)

Professor Klaus-Dieter Lehmann, Generaldirektor, Die Deutsche Bibliothek, Frankfurt am Main, Deutschland

Die Faszination der schnellen und globalen Verfügbarkeit digitaler Publikationen, hier insbesondere von Netzpublikationen, läßt häufig vergessen, daß die Wissenschaft und Forschung nicht nur davon lebt, daß ihre neuesten Ergebnisse eine rasche Verbreitung erfahren, sondern mindestens genauso davon, daß ihre Ergebnisse auch langfristig zugänglich bleiben. Langzeitverfügbarkeit ist in unserer schnellebigen digitalen Zeit mit ihrer ausgeprägten Wegwerfmentalität in der öffentlichen Diskussion nicht sehr präsent. Langzeitsicherung erscheint teuer und unwirtschaftlich, mit technischen und rechtlichen Problemen behaftet und reduziert sich in den Augen der dominierenden Naturwissenschaft als ein Nischenproblem der Wissenschaft, speziell der Geisteswissenschaft.

Dabei hat schon Leopold von Ranke, der Begründer der modernen Geschichtswissenschaft, festgestellt, daß die Vermehrung der Erkenntnis nicht nur darin besteht, noch unbekannte Informationen über die Tatsachen zu ergründen und mitzuteilen, sondern auch - und vielleicht noch häufiger - eine neue Auffassung des schon Bekannten aufzustellen.

So wie unser Jahr aus vier Jahreszeiten besteht, so wird unser Wissen, unsere Erkenntnis aus vier Quellen gespeist:

  1. Die Weiterentwicklung von Wissen durch die Forschung
  2. Die Vermittlung von Wissen durch die Lehre
  3. Die Verbreitung von Wissen durch das Publizieren
  4. Die Erhaltung von Wissen in den Sammlungen der Archive, Bibliotheken und Museen

Dieses Bild soll verdeutlichen, wie gleichrangig die intellektuelle und kulturelle Überlieferung Wissen und Erkenntnis trägt.

Welche Rolle ein Land kulturell und wissenschaftlich spielt, wird nicht zuletzt auch davon abhängen, wie kompetent es intellektuell und institutionell mit seiner kulturellen Überlieferung umgeht, wie kreativ und offensiv es diese vermittelt, welche Chancen es zur Zusammenarbeit nutzt.

Für die Langzeitsicherung im traditionellen Publikationswesen gibt es nahezu in allen Kulturstaaten gesetzliche Regelungen zur Pflichtablieferung an eine nationale Depotbibliothek, hinzu kommen regionale Bestimmungen. Letztlich übernehmen auch die wissenschaftlichen Bibliotheken mit historischer Dimension Verantwortung zur langfristigen Verfügbarkeit ihrer Sammlungen. Mit dem Aufkommen der digitalen Publikationen hat sich viel geändert - technisch, organisatorisch und auch strukturell. Dazu kommt, daß diese dynamische Veränderung anhält und damit die Konsequenzen noch nicht konkret überblickt werden können.

Die Probleme beziehen sich insbesondere auf den physischen Verfall digitaler Informationen, Änderungen von Codierung und Formaten, schneller Wechsel der Software- und Betriebssysteme und der Hardware. Gefährdung der Authenzität durch Manipulierbarkeit, unsichere Referenzierbarkeit. Aber auch die Informationsinfrastruktur der Bibliotheken selbst bleibt von ständiger Anpassung nicht verschont.

Der Wechsel zu einem neuen System garantiert nicht immer die Kompatibilität zu den bis dahin eingesetzten Archivierungs- und Bereitstellungssystemen.

Der physische Verfall digitaler Informationen kann durch das Umkopieren auf einen Träger gleichen Typs verhindert werden oder durch das Konvertieren auf einen anderen stabileren Träger. Die Rückübertragung auf Papier mag zwar in diesem Zusammenhang auf den ersten Blick attraktiv erscheinen, sie ist aber nicht zu empfehlen. Wichtige Multimediaeigenschaften können dabei verloren gehen.

Digitale Publikationen sind im Vergleich zu den Druckmedien weder homogen noch statisch. Sie sind jeweils eingebunden in eine spezifische systemabhängige Umgebung. Änderungen der Systemumgebung ändern auch die Präsentation. Präsentationsform und Inhalt sind nicht immer zu trennen, sondern bilden häufig erst das gemeinsame Informationsprodukt. Es ist mehr als die Rohdaten. Netzangebote mit Hyperlinks entziehen sich einer eindeutigen Zuordnung. Hier müssen die Grenzen der Publikation jeweils neu definiert werden.

Das sind nur einige Problemaspekte.

Die Tatsache, daß die Langzeitarchivierung digitaler Publikationen erheblich größere Schwierigkeiten verursacht als herkömmliche Publikationen, darf aber kaum zum Maßstab einer Entscheidung „ob oder ob nicht“ gemacht werden, sondern sollte Ansatz für die Entwicklung geeigneter Verfahren sein. Digitale Publikationen müssen in die Regelungen der Langzeitarchivierung einbezogen werden.

Dabei muß von Anfang an Zugriff und Verfügbarkeit berücksichtigt werden.

Die Deutsche Bibliothek ist per Gesetz verpflichtet, die in Deutschland erscheinenden Veröffentlichungen (Bild, Ton und Text) und die deutschsprachigen Veröffentlichungen des Auslandes vollständig zu sammeln, dauerhaft aufzubewahren, nach nationalbibliographischen Grundsätzen zu verzeichnen und öffentlich der Benutzung zur Verfügung zu stellen.

Es ist nur konsequent, den Auftrag auf die Langzeitarchivierung digitaler Publikationen zu erweitern.

Die jetzige gesetzliche Regelung, die in den §§ 3 und 18 eine Pflichtablieferung für Veröffentlichungen festlegt, ermöglicht die Einbeziehung von digitalen Publikationen auf physischen Trägern (CD-ROM, Disketten, Magnetbänder usw.) nicht jedoch die Pflichtablieferung von Netzpublikationen. Hierfür ist eine Novellierung des geltenden Gesetzes erforderlich. Derzeit gehen pro Jahr ca. 6000 digitale Publikationen auf physischen Datenträgern ein. Sie werden in der Nationalbibliographie angezeigt.

Die Deutsche Bibliothek hat die Vorbereitungen dazu getroffen und in verschiedenen Hearings mit Bibliothekaren, Verlegern und Regierungsvertretern sowie den Gremien Der Deutschen Bibliothek ihre Vorschläge diskutiert. Als Ergebnis dieser Hearings ist festzuhalten, daß übereinstimmend die Auffassung bestand, daß Die Deutsche Bibliothek digitale Publikationen in ihren Sammelauftrag einbeziehen muß, unabhängig davon, ob sie auf einen Datenträger oder als Netzpublikationen vorliegen.

Netzpublikationen (Nichtkörperliche Medienwerke) im Sinne des Sammelauftrags sind alle Darstellungen in Schrift, Bild und Ton, die zur Verbreitung über Datennetze bestimmt sind. Folgende Aspekte wurden definiert:

Die Netzpublikationen sind grundsätzlich über Datennetze abzuliefern. Auf Anforderung der Bibliothek sind sie auf elektronischem Datenträger abzuliefern.

Netzpublikationen in verschiedenen Formaten (Datenstruktur) sind in dem von der Bibliothek gewünschten Format abzuliefern.

Werden inhaltlich identische Medienwerke gleichzeitig in physischer Form und als Netzpublikation verbreitet, sind beide Formen abzuliefern. Ist die physische Form ein elektronischer Datenträger, ist nur dieser abzuliefern.

Werden inhaltlich identische Netzpublikationen von mehreren Anbietern gleichzeitig verbreitet, sind sie nur einmal abzuliefern.

Nicht ablieferungspflichtig sind insbesondere:

Der Bibliothek ist gestattet, eine Kopie der digitalen Publikationen für Zwecke der Langzeitarchivierung herzustellen. Dabei ist die Authenzität des Inhalts zu wahren.

Während über diese grundsätzlichen Definitionen und Verfahren kaum unterschiedliche Meinungen bestanden, zeigte sich, daß der signifikant andere Charakter von Netzpublikationen, der rasche technologische Wandel und Überlegungen zu sinnvollen Absprachen bei der Aufgabenverteilung zwischen den Partnern der Informationskette es ratsam erscheinen ließen, zunächst mit einer Vereinbarung anstatt mit einem Gesetz für die Ablieferung von Netzpublikationen zu beginnen. Vor einer gesetzlichen Regelung sollten gesicherte Erkenntnisse über Inhalt und Umfang des neuen Pflichtbereichs vorliegen.

Würde man eine möglichst allgemein formulierte Gesetzesnovellierung vorsehen, bestünde weder auf der Seite der Verleger noch auf der Seite der Bibliothek eine ausreichende Sicherheit über die Konsequenzen. Würde man eine möglichst eng formulierte Gesetzesnovellierung vorsehen, bestünde die Gefahr, ständig Anpassungen an den technologischen Wandel vornehmen zu müssen. So einigte man sich einvernehmlich auf ein Verfahren, das die freiwillige Ablieferung von Belegexemplaren durch Verleger und Produzenten vorsieht, Online-Hochschulschriften eingeschlossen. Der Probelauf unter Echtbedingungen soll, beginnend mit 1998 in einem Zeitraum von 3-5 Jahren gesicherte Erkenntnisse für eine dauerhafte gesetzliche Regelung bringen.Diese Empfehlung wurde förmlich vom Verlegerausschuß des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels im Juni 1997 bestätigt und lautet:

„Da im Bereich der elektronischen Publikationen bisher nur physisch verbreitete Datenträger wie CDRoms oder Disketten abgabepflichtig sind, empfiehlt der Verlegerausschuß den Verlagen bis zu einer gesetzlichen Regelung, ihre Netz-(Online-) Publikationen der Deutschen Bibliothek freiwillig abzugeben bzw. zugänglich zu machen. Der Verlegerausschuß befürwortet die Einbeziehung auch dieser Publikationen in den Aufgabenbereich Der Deutschen Bibliothek. Er umfaßt die Archivierung und Verfahren zur Langzeitsicherung, die Erschließung und die kostenfreie Nutzung (lesender Zugriff) im Lesesaal.

Die darüber hinausgehende Nutzung - elektronische Übernahme und Weiternutzung der Daten sowie Nutzung durch externer Nutzer erfolgt gemäß entsprechender Vereinbarungen mit Verlagen.

Die dabei gewonnenen Erfahrungen werden von Der Deutschen Bibliothek mit dem Ziel ausgewertet, einen Rahmenvertrag vorzulegen, in dem weitergehende Nutzungsmöglichkeiten von Netzpublikationen geregelt werden.“

Damit läßt sich ein Phasenkonzept sowohl im Hinblick auf die Menge und Art der Publikationen, die Produktgruppen, die Migrationsverfahren, die Regelung der Zugriffs- und Benutzungsrechte und die Kosten definieren.

Aber es bieten sich auch Chancen, aus der Kooperation von Verlagen und Bibliothek Schnittstellen für den Datenbezug gemeinsam festzulegen und den Bezug von digitalen Publikationen für die Langzeitarchivierung aus verschiedenen Phasen des Produktionsprozesses zu prüfen, z. B. aus einem Autorensystem oder einem Nutzungssystem, über Formate und Dokumenttypen und den sich daraus ergebenden Konsequenzen gemeinsam nachzudenken usw.

Das vom BMBF initiierte Programm Global Info, das Verlage, Wissenschaftseinrichtungen, Fachgesellschaften und Bibliotheken zusammenführt, ist für diese Fragestellung ein interessantes Forum. Die Deutsche Bibliothek wird deshalb im Schwerpunkt I / Arbeitsgruppe Dokumenttypen, Formate, Archivierung aktiv mitarbeiten und ihre Lösungsansätze gemeinsam mit den anderen in der Arbeitsgruppe beteiligten Bibliotheken und Verlagen entwickeln.

Derzeit sind wir dabei, mit den Verlagen die Kooperation abzustimmen, Dokumenttypen und Formate für ein erstes Archivierungskonzept zusammenzustellen und Zugangsverfahren zu digitalen Publikationen auf Archivservern (Metadaten) zu entwickeln.

Die Langzeitsicherung digitaler Publikationen kann nur erfolgreich sein, wenn mit einer sicheren Technologie ein möglichst einheitliches Archivierungskonzept gefunden wird, das sich durch Reformatierung und Konversion aus der jeweiligen Distributions- und Nutzungsform ergibt.

Beim Neubau für Die Deutsche Bibliothek in Frankfurt am Main konzentrierte sich die Aufmerksamkeit deshalb auch besonders auf eine leistungsfähige Informationsinfrastruktur. Es wurde praktisch für alle Anwendungsgebiete eine neue technische Plattform definiert:

ATM kommt nicht nur im Server- und Backbonebereich zum Einsatz, sondern wird bis zu den Endgeräten geführt. Damit können im Haus circa 900 passive Anschlüsse, 50 Multimedia-PCs und circa 600 Endgeräte realisiert werden. Die Standorte Deutsche Bücherei Leipzig und Deutsches Musikarchiv Berlin werden über ein logisches ATM-Hochgeschwindigkeitsnetz einbezogen.

Zugänge über offene Kommunikationsschnittstellen (Z 39.50) erleichtern das Arbeiten und die globale Suche.

Für die Erfassung, Verwaltung, Recherche, Präsentation und Langzeitsicherung von digitalen Publikationen ist das Multimedia-Bereitstellungssystem (MMB) von

besonderer Bedeutung. Es wurde gemeinsam mit CSC Ploenzke entwickelt und bietet folgende Funktionen:

Die Oberfläche ist intranet-typisch als Web-Browser ausgeführt. Die Benutzer haben auf nahezu selbsterklärende Weise Zugriff auf alle Funktionen unter einer standardisierten Benutzeroberfläche, die Arbeitsabläufe laufen vollautomatisch im Hintergrund ab - ohne Zutun und Kenntnis des Benutzers. Diese ganze umfängliche Installation verfügt auch über Benutzerverwaltungs- und Abrechnungsverfahren , um urheberrechtlichen und lizenzrechtlichen Vorschriften gerecht zu werden.

Die digitalen Publikationen, die künftig von Der Deutschen Bibliothek archiviert und verfügbar gehalten werden müssen, sind:

Die Deutsche Bibliothek bietet ihren Nutzern zwei Formen der Nutzung des MMB:

Anonyme Benutzer: Sie erhalten im Rahmen der Bibliotheksbenutzung Zugriff auf das MMB einschl. Exportmöglichkeiten

Eingetragene Benutzer: Sie erhalten für einen bestimmten Zeitraum eine Arbeitsumgebung, die auch die Nutzung des Internets und Bestellfunktionen für digitale Publikationen enthält sowie die Speicherung von Auszügen aus Publikationen und - in einer späteren Ausbaustufe - die Anlage und Bearbeitung eigener Dokumente erlaubt.

Die besondere Problematik des MMB liegt darin, daß es derzeit für Multimedia-Publikationen keinerlei technische Standards oder Konventionen gibt. Während die von uns selbst digitalisierten Archivalien einheitlich aufbereitet werden können, bringen vor allem Veröffentlichungen auf CD-ROM ihre eigene Präsentationssoftware mit und stellen sehr unterschiedliche Anforderungen an Betriebssystem, Treiberausstattung und Hardware der Arbeitsplatzrechner.

Zur Lösung dieser Problematik wurde ein Verfahren entwickelt, das die Installation und Deinstallation automatisch steuert. Dazu wird bei der Ersterfassung einer digitalen Publikation ein Installationsskript erstellt. Damit kann dann später bei Aufruf des Dokuments der Arbeitsplatzrechner des Benutzers exakt mit den erforderlichen Modulen und Dateien ausgestattet werden.

Für die Bereitstellung der digitalen Publikationen innerhalb des MMB wird ein gemischtes technisches Verfahren zur Speicherung angewandt.

Die am häufigsten angeforderten Publikationen werden als Images in ein Raid-System importiert (derzeit 80 GB). Das MMB-System übernimmt dabei die Aufgabe, die Daten vom ursprünglichen Datenträger in das Speichersystem zu überführen.

Weitere oft gebrauchte CD-ROMs können in Jukeboxen im ständigen Zugriff gehalten werden (bis zu 1000 CDs).

Individuell gewünschte Publikationen werden auf Anforderung per Hand aus dem Magazin entnommen und in das jeweils geeignete Medienserver-Subsystem importiert und über das Neutz zur Verfügung gestellt.

Publikationen, die sich - z. B. auf Grund von Kopierschutzmechanismen oder mangelnder Netzfähigkeit - der Installation und Wiedergabe innerhalb des Systems entziehen, werden den Nutzern an Einzelarbeitsplätzen zur Verfügung gestellt.

Es ist selbstverständlich, daß urheberrechtliche Bestimmungen und Lizenzverwertungsrechte beachtet werden. Ebenso wird darauf geachtet, daß die digitalen Publikationen nicht „physisch“ in die Hände des Nutzers gelangen, sondern über das System zur Verfügung gestellt werden. Dadurch sollen Manipulation, Beschädigung oder sonstige mißbräuchliche Benutzung verhindert werden.

Für die technische Langzeitsicherung der digitalen Objekte (DO) - das sind Medien und Nutzdaten des MMB-Systems wird ein Verfahren eingesetzt, das das Kopieren von kompletten DO-Inhalten vom Plattenspeicher auf CDRs vorsieht. Die Archivierung erfolgt durch Markierung der DOs, die archiviert werden sollen und einem zeitversetzten Archivierungslauf, bei dem alle zur Archivierung markierten DOs auf CDRs gebrannt werden. Archivierte DOs werden ausgelagert, d. h. der DO-Inhalt wird vom Plattenspeicher gelöscht, das Verzeichnis bleibt erhalten. Ausgelagerte Dos können wieder hergestellt werden. Darunter versteht man die Möglichkeit, den DO-Inhalt von der zuletzt erstellten Archiv-CDR auf dem Plattenspeicher wiederherzustellen.

Die Aktivitäten des Archivierungsprozesses werden in einer Logdatei protokolliert. Sie enthält die Attribute Datum/Zeit, DO-ID, Archiv-ID und Ereignis.

Diese Maßnahmen sind für technische Überlegungen zur Sicherung durchaus praktikabel, für eine Langzeitsicherung sind jedoch nicht nur technische Aspekte zu berücksichtigen; erforderlich ist ein ganzes Maßnahmebündel im Sinn eines strategischen Vorgehens.

Aus diesem Grund beteiligt sich Die Deutsche Bibliothek an einem europäischen Projekt zur Langzeitarchivierung digitaler Publikationen im Rahmen des Telematics-Programm der Europäischen Union. Sie ist der Auffassung, daß Verfahren und Strukturen für einen so komplexen Anwendungsbereich von Anfang an möglichst international (europäisch) angelegt sein müssen, um keine isolierten Strukturen zu schaffen. Sie ist ferner der Auffassung, daß von Anfang an Verlage und Softwarehäuser einbezogen werden sollten. Definiert worden ist deshalb das NEDLIB-Projekt (Networked European Deposit Library)!

Durch NEDLIB sollen Mechanismen entwickelt werden, die die Aufgaben von Nationalbibliotheken und -archiven auf dem Gebiet der Langzeitsicherung durch eine geeignete Infrastruktur unterstützen.

Die Infrastruktur umfaßt generische Modelle und Werkzeuge, Standards und nachnutzbare Verfahren. Entstehen soll so die Basis für eine verteilte und vernetzte europäische Archivbibliothek. Die entwickelte System-Architektur, unabhängig von deren Herkunft, Trägermedium und Datenformat, soll digitale Publikationen speicher- und zugriffsfähig für Endnutzer und für Institutionen machen. Gleichzeitig sollen kommerzielle und Copyright-Interesse der Produzenten und Verleger durch Zugriffskontroll-Verfahren berücksichtigt werden.

Die Kooperation mit Verlegern ist vorgesehen, ebenso eine laufende Rückkoppelung der Ergebnisse. Wo immer möglich sollen existierende Standards und Technologien verwendet werden.

Der Nutzen von NEDLIB liegt vor allem darin, daß praktisch nutzbare Instrumente (toolbox) zum Management eines Archivsystems für digitale Publikationen entwickelt werden, die mit der Infrastruktur der beteiligten Partner kompatibel sein sollen, in unserem Fall zum MMB-System. Die Ergebnisse sind anderen Bibliotheken, die ebenfalls Aufgaben zur Langzeitarchivierung wahrnehmen, zugänglich. Über die Kontakte zwischen Verlegern und Produzenten digitaler Publikationen und den NEDLIB-Projektpartnern wird ein intensiver Dialog über Herstellungs-, Nutzungs- und Archivierungsbedingungen zustandekommen.

Zusammenfassend sind die Projektziele so zu definieren:

Beteiligt sind die Nationalbibliotheken in den Niederlanden, in Frankreich, Norwegen, Finnland, Portugal, Deutschland und die Verlage Elsevier, Kluwer und Springer sowie die Softwarehäuser Level-7 Ltd., GB; INESC, Portugal; CSC Ploenzke, Deutschland. Assoziiert sind die Schweiz (LB Bern) und Italien (Nationalbibliothek Florenz). Das Projekt hat im Januar 1998 begonnen und endet im Dezember 2000.

Die Deutsche Bibliothek ist an vier Arbeitspaketen beteiligt:

Neben gesicherten Verfahren zur Archivierung müssen auch geeignete Zugriffsverfahren zur Verfügung gestellt werden.

Zur Zeit ermöglicht Die Deutsche Bibliothek internen Nutzern den Zugriff über den Web OPAC, externen Nutzern über das Z 39.50 Gateway auf den OPAC. Dieser Zugriff wird auch für die deponierten digitalen Publikationen die Grundlage bilden. Bei Netzpublikationen soll künftig die URL des Produzenten (PURL) dem Katalogeintrag hinzugefügt werden. PURL ist eine aktive Verbindung zum Verlagsserver, solange dort die Publikation aktuell vorgehalten wird.

Verglichen mit traditionellen Katalogeinträgen enthalten die Informationen über verfügbare digitale Publikationen zusätzliche Angaben, wie z. B. Publikationstyp, Datum der Evaluierung, Online-Verfügbarkeit früherer Ausgaben. Copyright-Angaben, ggf. Nutzungseinschränkungen, ggf. Hinweis auf dem Verlagsserver, Datenformat, empfohlener Browser und Präsentationssoftware, Art des Zugriffs (WWW), Hypertext Links usw.

Der nationalbibliographische Datensatz wird sich zusammensetzen aus den Metadaten des Produzenten und denen Der Deutschen Bibliothek.

Für die Realisierung des Zugriffs müssen die Daten der neuen Publikationen im Index der Suchmaschine ergänzt werden, die Software bereitgestellt werden und das jeweilige Format in das geeignete Format Der Deutschen Bibliothek überführt werden.

Das schnelle Anwachsen der Zahl von Netzpublikationen macht eine generelle Vorschrift zur bibliographischen Erschließung jeder einzelnen Publikation durch Katalogisierer utopisch. Andererseits hängt der Status einer digitalen Publikation als wissenschaftliche Quelle von ihrem eindeutigen Auffinden ab. Man wird Verfahren entwickeln müssen, die eine Überfrachtung mit Datenfeldern vermeiden, Erschließungsnormen international auf ein Metadatenformat von überschaubarem Umfang festlegen (Dublin Core Set) und dieses ggf. bei wissenschaftlichen Ansprüchen verknüpft mit ergänzenden nationalbibliographischen Daten. Die Deutsche Bibliothek führt derzeit gemeinsam mit der SUB Göttingen und der BSB München ein Projekt Meta-LIB durch. Die Deutsche Bibliothek hat dabei die Aufgabe übernommen, das Dublin Core Set durch nationalbibliographische Elemente aufzuwerten. Dazu sollen insbesondere die folgenden Verfahren untersucht werden:

bibliographische Erweiterung der Datenfelder

Verknüpfung mit Normdateien

Verknüpfung mit Numerierungsverfahren

Sie sind wiederum in Beziehung zu setzen zu bestimmten Gruppen von Publikationen (Niveaus). Das von der DFG finanzierte Förderprojekt hat wie NEDLIB im Januar 1998 begonnen und wird von Der Deutschen Bibliothek durchaus im Zusammenhang mit der Depotfunktion gesehen, auch wenn es darüber hinaus von allgemeinem Interesse für die Erschließung von digitalen Publikationen ist.

Digitale Kommunikation ist nicht allein ein Phänomen des globalen Netzes. Das Netz verteilt lediglich die Information. Entscheidend für Inhalt und Einfluß sind die Informationsquellen selbst, die Text- und Mediensammlungen. Deshalb wird für die Zukunft entscheidend sein, ob und wie lokale bzw. nationale Ressourcen des Wissens verfügbar gemacht werden, um mit den globalen Ressourcen verknüpft zu werden. Bei den digitalen Publikationen geht es um mehr als um Auswahl und Verwaltung durch Institutionen. Es geht um die Authentizität von Publikationen, um die Sicherung des geistigen Eigentums und um die Dauerhaftigkeit kurzlebiger Informationen.

So wichtig, wie das Bekenntnis zu den Büchern ist, so richtig ist die Erkenntnis, daß Bibliotheken, besonders auch Nationalbibliotheken - ohne Fortführung bzw. Transformation nicht gedacht werden können. Dabei ist entscheidend, daß ihre Entwicklung sich aus der kulturellen Mentalität und den wissenschaftlichen Bedürfnissen bestimmt. Es ist nur folgerichtig, daß Die Deutsche Bibliothek als nationale Archivbibliothek digitale Publikationen in ihren Sammelauftrag einbezieht. Ihre Funktionen werden bei der Archivierung künftig dadurch weniger statisch und mehr dynamisch sein, denn Archivierung bedeutet bei digitalen Publikationen immer auch Verfügbarkeit im Netz.

Es ist durchaus vorstellbar und auch anzustreben, daß sich Nationalbibliotheken künftig als Teil einer virtuellen Bibliothek verstehen und ihre Depotfunktion gegenseitig zum Transfer von Wissen und Information nutzen.

Professor K.-D. Lehmann