Sehr geehrte Damen und Herren,

lieber Herr Dr. Neubauer,

wenn ich Ihrer freundlichen Begrüßung entspreche, hätte ich das Image, die Bibliotheken auf dem Weg in die Informationsgesellschaft vor mir herzutreiben. Also - mit dem Bild kann ich leben!

Ich bin gebeten worden, zur Informationsversorgung in der Region, also im gastgebenden Land NRW zu sprechen. Es liegt nahe, daß ich dazu aus der Perspektive des zuständigen Ministeriums für Wissenschaft und Forschung in Düsseldorf berichte. In den über 50 Hochschulen in NRW leisten die elektronischen Medien einen zunehmend wichtigen Beitrag zur Informationsversorgung. Die Technik bietet enorme Übertragungs- und Speicherkapazitäten, die die digitale Bereitstellung von riesigen Informationsbeständen ermöglichen. Der Zugriff auf immer mehr Volltextdatenbanken und elektronische Zeitschriften im Hochschulnetz oder übers Internet gehört in unseren Hochschulen zum Alltag. Voraussetzung für den Online-Zugang zu diesen Medien ist die gute flächendeckende Vernetzung, die wir mit dem NRWWissWeb, unserem Anschluß an das Breitband-Wissenschaftsnetz, erreicht haben.

Angesichts des zunehmend vielfältigen Angebots an elektronischen Medien drängt sich die Frage auf, wie unsere Bibliotheken die Informationsflut dieser neuen Medien bewältigen, wie sie digitale Informationen beschaffen, bereitstellen und online verbreiten und wie sie das riesige weltweite Angebot ordnen und strukturieren. Und schließlich muß gefragt werden: Wie ist der zeit- und ortsunabhängige Zugriff für die Nutzer, ob Studierende oder Wissenschaftler, auf diese neue Medienwelt gestaltet?

Um Antworten auf diese Fragen zu finden, sind Sie heute und in den nächsten Tagen hier, und ich bedanke mich bei Ihnen, lieber Herr Dr. Neubauer, für die Einladung, an diesen Gesprächen teilzunehmen. An dieser Stelle möchte ich herzliche Grüße und die besten Wünsche für ein gutes Gelingen des Kolloquiums von Frau Ministerin Brunn übermitteln. Um Antworten auf die genannten Fragen zu finden, hat sie - übrigens bereits vor Beginn der aktuellen Diskussion um die Verbesserung der Studienbedingungen - die Hochschulbibliotheken gebeten, einen Statusbericht über ihren Umgang mit den elektronischen Medien vorzulegen. Der daraufhin erarbeitete Bericht liegt nunmehr - übrigens auch online - vor und heißt:

"Die Digitale Bibliothek NRW" (abrufbar unter http://www.wissenschaft.nrw.de).

Dieser Werkstattbericht belegt, daß unsere Bibliotheken auf die Verbreitung der elektronischen Medien nicht bloß reagieren, sondern auf vielen Gebieten bereits in hervorragender Weise die Initiative übernommen haben. Aus den zahlreichen Aktivitäten und Projekten an vielen Standorten sind landesweit einheitliche und regelmäßige Dienstleistungen hervorgegangen, die bereits deutliche Konturen der von uns angestrebten "verteilten digitalen Bibliothek" erkennen lassen.

Diese virtuelle Bibliothek entsteht real in lokalen Kompentenzzentren an vielen Hochschulen, sie basiert auf vielfältigen Kooperationsformen, und sie erzeugt - wie wir hier und heute erfahren und im Hochschulalltag oder sogar online von Zuhause aus erleben können - enorme Synergieeffekte.

Ich denke, daß diese "verteilte digitale Bibliothek" als Modell für die Bibliotheken der Zukunft im Europa der Regionen angesehen werden kann. Zurück aber zu unserer Regional-Perspektive.

Diese landesweite "digitale Bibliothek" ist ein Eckpfeiler unserer gemeinsamen Multimedia-Initiative, für die seit 1996 erhebliche Mittel der Hochschulen und aus dem Hochschulsonderprogramm eingesetzt wurden. Wir konnten bei den Verhandlungen zum Hochschulsonderprogramm III des Bundes und der Länder bis zum Jahr 2000 Sondermittel in Höhe von knapp 50 Mio. DM reservieren, vielleicht werden es noch mehr. Mit Hilfe dieses Multimedia-Aktionsprogramms können wir die Bibliotheken als Lernort und Informationsagentur ihrer Hochschule auf die Zukunft ausrichten.

In den kommenden Monaten und Jahren werden wir die Entwicklung, Bereitstellung und Verbreitung elektronischer Medien in den Hochschulbibliotheken forcieren und die äußerst fruchtbare landesweite Zusammenarbeit auf diesem Gebiet fördern. Ich erwarte vom schnellen und einfachen Online-Zugriff auf Texte, Bilder, Daten und andere Informationen vor allem die Optimierung von Lern- und Lehrprozessen und eine Steigerung der Leistungsfähigkeit von Wissenschaft und Forschung.

Durch Absprachen und Arbeitsteilung zwischen den Hochschulen und ihren Infrastruktureinrichtungen sollte dieses Dienstleistungsangebot im Sinne einer "verteilten kooperativen Zuständigkeit" von Bibliotheken, Rechenzentren und Medienzentren gemeinsam realisiert werden. Dazu gehört auch, daß wir das breite Angebot von Multimedia-Produkten landesweit und unter einer einheitlichen Oberfläche zugänglich machen.

Die online-Nutzung kann natürlich nur eine weitere Facette, eine zusätzliche Erscheinungsform einer Bibliothek sein, kann über Engpässe in der Beschaffung hinweghelfen, wenn ein Buch auch online abgerufen werden kann. Sie kann Informationen in greifbare Nähe rücken, die man noch gestern nur durch monatelange Auslandsaufenthalte bekommen hätte. Die Aufgaben der realen Bibliothek werden sich sicherlich verändern, es werden andere Aufgaben auf sie zukommen, neue Schwerpunkte bilden sich schon heute heraus. Hierzu wird auch gehören, die Bibliothek nicht nur als Ort des Lernens, sondern auch als Ort der Begegnung, als Ort der Kommunikation zu begreifen. Mit der Diskussion um die virtuelle Bibliothek, die die digitalen Dokumente vorhält, beginnt ein neuer Abschnitt in der Hochschulgeschichte, und dessen sollten wir uns bewußt sein, wenn wir, wenn Sie über die Möglichkeiten für elektronische Informationsversorgung der Wissenschaft diskutieren.

Ich habe Ihnen vom Werkstattbericht "Die Digitale Bibliothek NRW" berichtet. Er war gerade erschienen, da haben Bund und Länder beschlossen, noch für dieses Jahr jeweils weitere 40 Mio. DM für die Bibliotheken bereitzustellen, also insgesamt 80 Mio DM. Ziel ist nicht die einmalige Verbesserung von Lehrbuchsammlungen - jedenfalls nicht in NRW. Darüber sind wir längst hinaus. Wir wissen, daß es heute nicht mehr ausreichend, geschweige denn zufriedenstellend ist, Bücher en masse in die Bibliotheken zu stellen. Die Hochschulen sollen mit Hilfe dieses Programms, das der Bund erst auf Drängen der studentischen Proteste aufgelegt hat, in den nächsten Jahren in die Lage versetzt werden, ihre Rolle, die wir heute für die Bibliotheken diskutieren, ernsthaft und erfolgreich auszufüllen. Ich will dabei allerdings nicht von den Bibliotheken als "Träger" der Informationsgesellschaft sprechen - die Gesellschaft darf nicht getragen werden, sie muß sich selbst bewegen, muß sich verändern und sich den Neuen Techniken und Diensten öffnen. (Ich fürchte, das war eine Anspielung auf den Titel Ihres Kolloquiums.) Gerade an dieser Öffnung sind die Bibliotheken maßgeblich beteiligt. Sie vermitteln das Wissen, den Umgang mit dem Wissen, und sie ermöglichen den Zugang zum Wissen, das sie auch wahren.

Das Programm soll folgende Bereiche unterstützen:

Soweit die Bund-Länder-Vereinbarung, die am 12.2.1998 in der BLK abgestimmt wird. Diese Ziele sind sehr allgemein gehalten, um den Ländern eine bedarfsorientierte Verbesserung der Medien-Versorgung in den Hochschulen zu ermöglichen.

Was wollen wir in NRW daraus machen?

Wir werden in NRW einen Hochschulentwicklungsplan für "Information, Kommunikation und Multimedia" erarbeiten. Auf dieser Grundlage werden wir mit diesen Mitteln - von den 80 Mio. DM erhält NRW 17,6 Mio. DM - folgende Dienstleistungen und Medienangebote unterstützen:

Hierzu gehören vor allem:

Die Bibliotheken leisten hierzu einen zentralen Beitrag, insbesondere im Bereich der Informationsversorgung und Beschaffung. Andere Fragen des Einsatzes neuer Medien, Techniken und Dienste in der Hochschule werden von den Rechenzentren und Medienzentren kompetent beantwortet. Und das beste: Diese drei zentralen Einrichtungen der Hochschulen stimmen sich untereinander ab und entwickeln Perspektiven, wie sie sich ihren Beitrag hierzu vorstellen. In wenigen Tagen wird hierzu ein bundesweit erarbeitetes Thesenpapier veröffentlicht, das Sie auch online abrufen können. Dieses Papier zeigt: es werden neue Anforderungen an das Personal, an den Zuschnitt der Aufgabenbereiche und an die Dynamik in den Hochschulen gestellt. Es zeigt auch: der Weg in die Informationsgesellschaft ist kein lokaler oder regionaler; die Hochschulen stehen vielmehr in einem internationalen Wettbewerb, für den wir sie gemeinsam heute wappnen müssen. Wissenschaftliche Informationsversorgung regional - für Nordrhein-Westfalen heißt das nicht zuletzt deshalb auch: wissenschaftliche Informationsversorgung in Europa.

Das Ministerium für Wissenschaft und Forschung will insbesondere durch seine Förderung von Beziehungen zu ausländischen Hochschulen einen Schwerpunkt in seiner Politik setzen. Hierfür haben wir bereits für dieses Jahr die Mittel fast verdreifacht, für das kommende Jahr haben wir sie im Haushalt festgeschrieben und noch einmal verdreifacht. Dabei beschränken wir uns nicht auf den Blick über die nahen Grenzen in den Westen. Beispiele hierfür sind bekannt: wie die Zentralbibliothek für Landbauwissenschaften in Bonn, die u.a. mit Wageningen, Budapest kooperiert, oder die Bibliothek der Universität Duisburg, die einen Schwerpunkt mit England pflegt. Aber wir legen auch besonderen Wert auf den Blick nach Osten, d.h. die Zusammenarbeit der Universität Köln mit Bukarest, mit Cluj, Sofia, Prag und weiteren Hochschulen in der Mitte und im Osten Europas. Wir legen Wert auf die Aktivitäten der Universität Bochum, die ein JASON-Projekt mit Zagreb plant. Gleiches gilt für die Kooperationen der Bibliothek der UGH Wuppertal mit Kosice, Budapest, Wien, ihre Büchergaben nach Minsk und Nishni Nowgorod - und natürlich die Kooperationen der Universität Bielefeld mit den Universitäts- und der Nationalbibliothek in Bratislava und Kosice. Jüngste Herausforderung ist eine Kooperation mit den Hochschulen in den palästinensischen Gebieten und im Gazastreifen. Ich kann für fast jede Hochschule ein solches Kooperationsprojekt nennen, und darüber freue ich mich.

Auch die Europäische Kommission, der Europäische Rat befassen sich mit dieser Frage, und ich denke, wenn wir hier Staatsgrenzen einmal überschritten haben, sollten wir auch die weitere Diskussion international, eben bezogen auf ganz Europa führen. Die Europäischen Kommission hat gerade im Oktober eine Liste von 24 Projekten beschlossen, die im Bereich Telematik und Bibliotheken mit Mitteln in Höhe von 10 Mio. ECU gefördert werden sollen. Sie stellte übrigens bei der Auswertung der bisherigen Projekte im Sektor Telematik für die Bibliotheken Europas fest, daß 42% aller Projekte von Hochschulbibliotheken konzipiert waren - auch das macht stolz.

Würden Sie noch vor vielleicht 10 Jahren jemandem geglaubt haben, der Ihnen all dies vorhergesagt hätte?

Uns allen ist die unglaubliche Dynamik und Bedeutung des Themas bewußt. Manchmal werden Zweifel laut, die eine Technikbegeisterung befürchten, die Neue Techniken und Dienste um ihrer selbst willen fördert. Ich halte das eine wie das andere Extrem für falsch. Schon heute sehen wir, welche immensen Vorteile der Einsatz neuer Informationswege bringt. Bei der Antwort auf die Frage, wie sie optimal zu nutzen sind, sollten wir uns nicht allzu getrieben fühlen: Es hat fast 200 Jahre gedauert, bis erkannt wurde, wofür der Buchdruck außer zur Vervielfältigung der Bibel genutzt werden konnte: weltliche Bücher, dann Zeitungen und später Flugblätter kamen so viel später, daß wir uns bei der Entwicklung unserer Visionen für die Nutzung der neuen Technologien nicht allzu getrieben fühlen sollten* . Ich denke wir sind auf einem guten Weg. Nichtsdestotrotz möchte ich die Gelegenheit nutzen, und abschließend unseren Standort auf diesem Weg bestimmen - und bitte um Verständnis, wenn dieser Standort in NRW liegt:

  1. Die nordrhein-westfälischen Bibliotheken engagieren sich aktiv für den Einsatz neuer Informations- und Kommunikationstechnologien in der Wissenschaft - diese Veranstaltung ist ein greifbarer Beweis.
  2. In NRW wurde europaweit das erste große europäische Konsortium mit einer beeindruckend großen Zahl elektronischer Zeitschriften gegründet. Ich möchte bei dieser Gelegenheit auch dem Vertragspartner Elsevier danken, der hieran nicht nur als weltweit größter Verlag für wissenschaftliche Zeitschriften beteiligt ist, sondern auch sein europäisches Engagement plastisch dokumentiert.
  3. NRW bleibt hier nicht stehen; Verhandlungen mit anderen großen Anbietern elektronischer wissenschaftlicher Zeitschriften sind geplant bzw. schon angelaufen. So werden alle Zeitschriften des größten deutschen Anbieters in einem Test z.Zt. von einigen nordrhein-westfälischen Bibliotheken der jeweiligen Campus-Klientel kostenlos angeboten.
  4. Es ist ganz wesentlich, daß die elektronischen Zeitschriften auch zum Zweck der Fernleihe zur Verfügung stehen, da damit Arbeitsgänge beschleunigt werden können. Dies muß zumindest für die Titel möglich sein, die sowohl gedruckt als auch elektronisch vorgehalten werden. Ohne Einbezug der Elektronischen Volltexte in den Fernleihverkehr werde ich keine Projektmittel bereitstellen.
  5. Ebenso wichtig ist es, daß alle Nutzungsdaten den Bibliotheken zur Auswertung zur Verfügung stehen. Das muß unabhängig davon sein, ob die Texte lokal oder auf einem Verlags-Server zur Verfügung gestellt werden.
  6. Heute stellen manche Verlage ihre Texte den Bibliotheken lokal bereit, während andere ihre Texte selbst auf eigenen Servern vorhalten. Hieran sollte erprobt werden, welches Verfahren unter Nutzer- aber auch unter Kostenaspekten wie zu beurteilen ist. Dies muß Projektinhalt sein.
  7. In der heutigen Etatsituation muß es unser Ziel sein, aus der Preisentwicklung für Zeitschrifteninhalte herauszubrechen. Elektronische Zeitschriften könnten ein Weg dahin sein, wenn es andere Finanzierungsmodelle als das des jährlichen Abonnements gäbe. Interessant unter Kosten-Nutzen-Aspekten wäre der Kauf von Zugriffskontingenten oder die Variante Pay-per-View für selten benutzte Zeitschriften. Für die häufig genutzten Zeitschriften bleibt die Variante Abonnement interessant.
  8. Die Verlagskooperationen sind für mich ein Test. Geht dieser Test nicht zufriedenstellen aus, beabsichtige ich, das visionäre Projekt "Universitätsverlag NRW" anzupacken.

Ich rechne also durchaus mit unruhigen Zeiten. Sie sehen: Wir haben viel geschafft, und vieles, was wir heute noch gar nicht bestimmen können, bleibt zu tun - in NRW und in Europa. Wir sind auf dem richtigen Weg.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.