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Lokale und nationale Archivierung elektronischer Publikationen in der Schweiz


Dr. J.-F. Jauslin, Direktor der Schweizerischen Landesbibliothek

1. Die Situation in der Schweiz

Die Schweiz weist hinsichtlich der Archivierung von Informationsträgern recht eigentümliche Merkmal auf. Verglichen mit dem Durchschnitt der Länder Westeuropas ist ihr Bibliotheksnetz ausserordentlich dicht. Und die Produktion von Information ist bemerkenswert hoch. Beide Phänomen fallen umso mehr auf, als einige andere Tatbestände eine solche Entwicklung eher behindern müssten. Zunächst der stark eingeschränkte Markt. Die rund 7 Millionen Einwohner der Schweiz bilden im europäischen oder weltweiten Vergleich eine sehr kleine, an der Information in allen ihren Erscheinungsformen interessierte Personengruppe. Hinzu kommt, vor allem im Bereich der Literatur, aber auch der Kultur allgemein, die wegen der Vielzahl der Sprachen und Mentalitäten ausgeprägte Sektorisierung dieses Marktes. Die Westschweiz, französischsprachig, nimmt sozusagen nicht zur Kenntnis, was in der Deutschschweiz vor sich geht. Die Deutschschweizer ihrerseits ignorieren alles oder fast alles, was in den anderen Sprachregionen geschieht. Das Tessin, italienischsprachiger Kanton, hat mit den Kulturen der deutschen und der französischen Schweiz zwar mehr Berührung, seine eigene aber bleibt weitgehend auf das Kantonsgebiet beschränkt. Jede dieser Sprachregionen importiert in grossem Mass ausserschweizerisches Kulturgut. Die Deutschschweiz ist dabei nach Deutschland, die französische Schweiz nach Frankreich und das Tessin nach Italien orientiert. Aufschlussreich ist immerhin die Feststellung, dass das Interesse in den Regionen für šbersetzungen literarischer Werke, die in den anderen Landesteilen entstanden sind, zunimmt. Aber auch diese Tatsache zeigt, wie bestimmend Sprachgrenzen für unser Land sind. Einig ist man sich diesseits und jenseits dieser Grenzen über den kulturellen Einfluss, den Informationszufluss aus den angelsächsischen Ländern, vor allem aus Nordamerika.

Das Informationswesen ist nicht ein Bereich, in dem sich die Schweiz besonders hervorgetan hätte. Zum Beispiel hat sich das Bibliotheksnetz des Landes, so leistungsfähig es sein mag, nicht etwa auf der Basis einer höheren Berufsausbildung entwickelt. An keiner Universität unseres Landes gibt es einen Lehrstuhl für Informationswissenschaft. Nur die Absolventen der "Ecole suisse d'information documentaire" in Genf (E.S.I.D.) und der Kurse des Verbandes der Bibliotheken und Bibliothekarinnen/Bibliothekare der Schweiz verfügen über eine entsprechende Ausbildung, und seit einiger Zeit können Inhaber/innen eines Universitätsabschlusses postgraduate-Lehrveranstaltungen besuchen, um sich auf Berufe vorzubereiten, die mit der Informationsvermittlung zu tun haben. Der markanteste Mangel besteht aber bei der Forschung: Hier läuft sozusagen nichts. Und wo es Forschungsaktivitäten gibt, wickeln sie sich in der Regel an spezialisierten Hochschulinstituten ab und ohne Beteiligung von Bibliotheken.

Man wird sich also nicht wundern darüber, dass das Bibliothekswesen der Schweiz eine gewisse Leistungshöhe vor allem im Bereich der technischen Informatik erreicht hat, Aspekte der Dokumentationstechnik dabei jedoch so gut wie vernachlässigt worden sind.

2. Die Situation der Schweizerischen Landesbibliothek

In diesem Zusammenhang ist auf die Schweizerische Landesbibliothek in Bern und auf ihre spezifische Position hinzuweisen: Vor hundert Jahren, 1895, gegründet und mit dem an sich begrenzten Auftrag ausgestattet, die schweizerischen Informationsträger zu sammeln, hat sie in der erste Hälfte dieses Jahrhunderts trotzdem eine bestimmende Rolle gespielt. In der Schweiz und im Ausland galt sie eine Zeitlang sogar als vorbildlich, und mehrere ihrer Direktoren haben im Rahmen nationaler und internationaler Zusammenarbeit äusserst aktiv mitgewirkt. Leider hat die Institution dann aber in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre den entscheidenden Schritt zur Automatisierung des Betriebs nicht getan. Und noch weniger hat sie sich um die neuen Informationsträger gekümmert. Weil die Mittel fehlten und sie allmählich in Vergessenheit geriet, konnte sie auch eine der wesentliche Funktionen einer Nationalbibliothek nicht mehr erfüllen: das heisst, den anderen Institutionen des Landes den Weg zu weisen. Noch 1990 wurden ihre Sammlungen von ungefähr 3 Millionen Werken und der Schweizerische Gesamtkatalog mit einigen 6 Millionen Titelkarten manuell geführt. Es versteht sich von selbst, dass damals auch die elektronischen Informationsträger für die Landesbibliothek kein Thema waren. Allerdings - das muss präzisiert werden - konnte sie auch nie, trotz ihrer Stellung als Nationalbibliothek, aus einer gesetzlichen Abgabepflicht Nutzen ziehen; nur auf dem Umweg über Vereinbarungen mit den Verlegern erhielt und erhält sie die Dokumente, die ihre Sammlungen konstituieren.

3. Reorganisation der Schweizerischen Landesbibliothek

Anfangs der neunziger Jahre hat die schweizerische Landesregierung beschlossen, die Landesbibliothek zu modernisieren, und zu diesem Zweck ein umfassendes Reorganisationsprojekt anlaufen lassen. Binnen ungewöhnlich kurzer Frist stimmte das Parlament einem neue Landesbibliothek-Gesetz zu, das auch Grundlage ist einer richtungsweisenden Politik für die Archivierung von Informationsträgern in der Schweiz. Der Inhalt des ersten Gesetzes über die Landesbibliothek von 1911 blieb im wesentlichen erhalten - ihr Sammlungsmandat wurde aber stark erweitert und auf alle Informationsträger ausgedehnt. Das bedeutet, dass sie nun nicht mehr nur die gedruckte Dokumentation aus der und über die Schweiz sammelt, bewahrt und der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt, sondern Träger aller, namentlich auch elektronischen Typen. Nach wie vor fehlt allerdings die gesetzliche Abgabepflicht, da nach wie vor keine ausreichende Verfassungsgrundlage vorhanden ist. Die Landesbibliothek muss für ihre Erwerbungen weiterhin ohne besondere gesetzliche Instrumente auskommen. Immerhin hat der Gesetzgeber erkannt, dass sie die Sammelaufgabe nicht allein zu bewältigen vermag, und dementsprechend vorgesehen, dass sie eine Reihe von Aufgaben an andere Institutionen des Landes delegieren kann.

4. Das elektronische Kulturgut der Schweiz

Die audiovisuellen Träger

Mit Blick auf den audiovisuellen Bereich, auf Ton- und Bildträger also, namentlich auf die stehenden und laufenden Bilder (Photographie beziehungsweise Film und Video) ist zu konstatieren, dass zugunsten ihrer Erhaltung bisher sehr wenig unternommen worden ist. Der Hauptproduzent, die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG), hat selbstverständlich beträchtliche Summen für die Konservierung ihrer Sendungen investiert, ohne dass es aber gelungen wäre, mehr als einen kleinen Teil dieses von ihr produzierten Kulturguts zu erhalten. Die Cin‚mathŠque suisse in Lausanne besitzt eine Sammlung von aussergewöhnlicher Bedeutung vor allem ausländischer Filme, hat aber kaum die Mittel, um auf breiterer Basis Restaurierungs- und Konservierungsarbeiten durchzuführen. Auch der in Lugano domizilierten Schweizerischen Landesphonothek ist es schwer möglich, ihren prioritären Auftrag zu erfüllen, das heisst, sich um die Erhaltung der kommerziellen Tonproduktion des Landes zu kümmern. Und keinesfalls hat sie die Mittel, sich anderer, ebenso wichtiger Bereiche anzunehmen, zum Beispiel der nationalen Radiosendungen. Denn obschon sie von der öffentlichen Hand stark subventioniert werden, sind Cin‚mathŠque und Phonothek als Institutionen des privaten Rechts eingerichtet. Der Bund selbst wollte sich auf diesem Gebiet nie direkt engagieren.

1991, anlässlich der Revision des Bundesgesetzes über Radio und Fernsehen, hat das Parlament eine Bestimmung eingeführt, die den Bundesrat ermächtigt vorzuschreiben, dass Aufzeichnungen wertvoller Sendungen einer nationalen Institution unentgeltlich zur Aufbewahrung überlassen werden. Bei der Beratung wollte eine Parlamentarierin wissen, welche Institution in der Lage sei, ein solches Mandat zu übernehmen, falls diese Bestimmung angenommen werde. Die Frage wurde an die Direktion der Landesbibliothek weitergegeben, sie wurde beauftragt zu prüfen, was für Lösungen sich anbieten. In enger Zusammenarbeit mit Bundesarchiv, Cin‚mathŠque, Phonothek und Radio- und Fernsehgesellschaft wurde Ende 1991 eine Studie eingeleitet, um zunächst einmal zu erheben, in welchem Zustand sich die verschiedenen schweizerischen Sammlungen von audiovisuellen Trägern befinden. Das Ergebnis war katastrophal. Wir mussten zur Kenntnis nehmen, dass in der Schweiz tagtäglich wertvolle Dokumente verloren gehen, weil es an einer gesamtschweizerischen Politik und Strategie fehlt, die diesem Problem gewachsen wäre, und weil die erforderlichen Mittel fehlen. Das seit Beginn der neunziger Jahre herrschende wirtschaftliche Klima machte es unmöglich, geeignete Sofortmassnahmen zu ergreifen, etwa ein Nationales Archiv für elektronische Publikationen zu gründen. In Ermangelung eines Besseren wurde nun Ende 1995 ein Verein ins Leben gerufen, dem die wichtigsten auf diesem Gebiet tätigen Institutionen angehören. Sein Ziel ist es, Mittel und Kompetenzen zusammenzulegen, die heute an verschiedenen Orten vorhanden sind und ausgeübt werden, und seine vordringlichste Aufgabe besteht darin, einen koordinierten Rettungsplan für das audiovisuelle Kulturgut aufzustellen. Dies kann allerdings nur eine erste Etappe sein, die, allein und für sich, natürlich nicht ausreicht, den Rückstand aufzuholen, der in der Schweiz hier besteht.

Andere elektronische Publikationen

Auch für die anderen, die nicht audiovisuellen elektronischen Träger, besteht keine koordinierte Erhaltungs- oder Konservierungspolitik. Dabei handelt es sich hauptsächlich um CD-ROMs, wie sie die meisten Bibliotheken, unter dem Einfluss von Markt und Benutzerbedürfnissen, doch schon seit einigen Jahren sammeln. Es sind vor allem ausländische Produkte, da Schweizer Verlage sich in diesem Sektor ja keineswegs als Pioniere bewegt haben.

Auch auf ein gemeinsames Programm zur Digitalisierung ihrer Bestände konnten sich die Bibliotheken unseres Landes bisher nicht einigen. So droht das Risiko einer Duplizierung der Anstrengungen, zu schweigen von der Gefahr, dass unterschiedliche Technologien angewendet werden. Zwar ist das Projekt "Digitalisierung" der G7 in der Schweiz von Anfang an auf grosses Interesse gestossen. Sofort wurde gefragt, unter welchen Bedingungen unser Land sich daran beteiligen könne, und für den Bibliotheksbereich wurde die Landesbibliothek als "focal point" bezeichnet mit dem Auftrag, diese Entwicklungen von nahem zu verfolgen. Aber auch wenn das Interesse theoretisch sehr gross ist - die praktischen Schritte sind klein.

Inzwischen expandiert die elektronische Publikation nach allen Richtungen, und Werkzeuge wie WWW ("World Wide Web") ermöglichen es privaten Unternehmen, sich sozusagen um die Wette zu multiplizieren. Niemand kann heute aber dafür garantieren, dass die produzierten Informationen auch erhalten bleiben, obschon einige davon es durchaus wert wären, als Reflexe unserer Gegenwart für kürzere oder längere Zeit aufbewahrt zu werden.

Die Schweizerische Landesbibliothek selbst, stark mit der Reorganisation ihrer herkömmlichen Aufgaben beschäftigt, hat sich, wie erwähnt, mit Verzögerung dieser Problematik zugewandt. Eine wirklich nationale Politik wurde bis heute nicht festgelegt.

Die Informationsdatenbanken

Das neue Gesetz überträgt der Landesbibliothek unter anderem die Aufgabe, die im Lande vorhandenen Datenbanken zu verzeichnen. Dieser Auftrag ist noch unerledigt. Interessanterweise sind nämlich die meisten kommerziellen Datenlieferanten einem solchen Verzeichnis gegenüber ausserordentlich zurückhaltend. Man möchte zwar denken, dass ihnen ein derartiges, gewissermassen offizielles Register einleuchten würde und willkommen wäre. Aber die Furcht vor einer unkontrollierbaren Konkurrenz und vor einer Einmischung der Verwaltung ins Geschäft ist offenbar stärker als das Interesse an der Publizität, die ein solches Verzeichnis bewirken könnte.

5. Ein föderalistisches Archivierungsmodell

In einem Land, dass so föderalistisch geprägt ist wie die Schweiz, hat ganz eindeutig nur ein Modell Aussicht auf Zustimmung, das die Kompetenzen entsprechend verteilt. Wenn es gelingt, unseren politischen Behörden verständlich zu machen, dass die zweckdienliche Handhabung der Information eine der entscheidenden strategischen Herausforderungen für unser Land im nächsten Jahrhundert darstellt, dann lässt sich ein Vorgehen nach dem folgenden Schema denken:

Zunächst wird einer bestimmten Institution ein nationales Koordinationsmandat übertragen. Die Schweizerische Landesbibliothek könnte sich dieser Aufgabe unterziehen unter der Voraussetzung, dass sie auch die Mittel erhält, die erforderlich sind, um sie zu erfüllen. Im Unterschied zu vielen anderen Länder ist es allerdings nicht denkbar, dass die Landesbibliothek allein die Konservierung aller Informationsträger verantwortet, die Landesbibliothek allein sie der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt. Ihr Rolle muss sich darauf beschränken, dezentral durchgeführte Aktivitäten zu koordinieren und die spezifischen konkreten Massnahmen an andere Institutionen zu delegieren.

Nach unserem Modell sind diese Institutionen verantwortlich für die Festlegung von Standards, Normen und Techniken in den sie betreffenden Bereichen; an sie oder an die Landesbibliothek wenden sich andere Institutionen des Landes mit Fragen usw., welche die Publikationsformen angehen, für die sie zuständig sind, währenddem die Landesbibliothek zusätzlich noch dafür sorgt, dass jede Dokumentenkategorie auch tatsächlich erfasst wird. Es ist klar, dass dieses Modell einen beträchtlichen Aufwand an koordinierender Tätigkeit erfordert und, was die Festlegung der Verantwortlichkeitsbereiche, die Bezeichnung der verantwortlichen Institutionen betrifft, eine gute Dosis von šberzeugungsarbeit an die Adresse zahlreicher Instanzen verlangt. Ohne die entschlossene Unterstützung durch die politischen Behörden aller Ebenen besteht denn auch nur wenig Aussicht, es zu verwirklichen. Hoffen wir, sie besinnen sich rasch und machen sich bewusst, dass die Information eine kritische Ressource ist, so kritisch wie das Geld.

6. Schluss

Bei der Archivierung elektronischer Publikationsformen liegt die Schweiz deutlich im Rückstand. Bis heute sind keine Schritte getan worden, um die neuen Typen von Informationsträgern auf einheitliche Weise zu bewahren und zu benutzen. Es genügt nicht, dass sich die betroffenen Kreise, die Hersteller und die Bewahrer, zusammenfinden. Es braucht auch die šberzeugung und Zustimmung der politischen Behörden, um einem Modell zum Durchbruch zu verhelfen, das den Bedürfnissen tatsächlich entspricht. Dieses Modell muss von verschiedenen Institutionen getragen werden - so verlangt es das in der Schweiz stets irgendwie vorhandene sozusagen: Grundbedürfnis nach Dezentralisation. Trotzdem oder gerade deswegen muss eine Stelle beauftragt werden - zum Beispiel die Schweizerische Landesbibliothek -, welche alle Tätigkeiten in diesem Bereich koordinierend lenkt.


Sekretariat der Bibliothek der Universität Bielefeld